Die Zwischenkriegszeit ist nicht nur in geopolitischer und technologischer Hinsicht, sondern auch in künstlerischer und kultureller eine der aufregendsten Zeiten der Geschichte des Westens. In diesen Jahren entstanden und etablierten sich die wichtigsten Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts, wie der Dadaismus und der Surrealismus. Sie gingen aus dem eklektischen Kreis Pariser Intellektueller hervor und breiteten sich dann in den wichtigsten europäischen Hauptstädten aus. Dasselbe gilt für den russischen, von einem starken Wunsch nach sozialer und politischer Erneuerung getragenen Konstruktivismus, der auch die Grundlage für die Revolution von 1917 bildete. 1919 wurde im deutschen Dessau das Bauhaus eröffnet, ein für Kunst und Design grundlegendes Institut, um das einige der wichtigsten Intellektuellen der Zeit kreisten, während in Italien die futuristischen Künstler die Moderne zu ihrem poetischen Fokus machten. Flugzeuge, Autos, Züge, Telegrafen, Radios usw. verändern nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen radikal und überwinden Entfernungen und geografische Grenzen, sondern bieten auch neue Perspektiven auf die Realität. Die transatlantische Verbreitung von Ideen, Bildern, Gegenständen und Menschen bestimmte auch das Gleichgewicht der internationalen Kulturlandschaft neu. Neben den unglaublichen Möglichkeiten, die die neuen Verkehrsmittel boten, führten die Ereignisse, die Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erschütterten, dazu, dass immer mehr Intellektuelle in die Vereinigten Staaten auswanderten. Dies hatte zur Folge, dass sich das wichtigste Zentrum der weltweiten Kunstproduktion von Paris nach New York verlagerte. Die Fotografie und das Kino erweisen sich als die geeignetsten Ausdrucksformen, um die Reichweite der damaligen Veränderungen zu beschreiben, die auch das Ergebnis des die Welt revolutionierenden Strebens nach Fortschritt sind. Die Kameras wurden immer kleiner und leichter, was eine bis dahin unvorstellbare Beweglichkeit und Freiheit bei den Aufnahmen ermöglichte, während Verbesserungen der typografischen Reproduktionstechniken die weite Verbreitung von illustrierten Zeitschriften ermöglichten und den Grundstein für eine neue Nutzung von Bildern in der Massenkommunikation legten. Der Reichtum und die Komplexität dieses besonderen Moments der Geschichte wird durch die Fotografien aus der Sammlung Thomas Walther im Museum of Modern Art, New York, auf einzigartige Weise vermittelt. Die vom Schweizer Sammler seit 1970 zusammengetragene und von der New Yorker Institution zwischen 2001 und 2017 erworbene Sammlung umfasst einige der wichtigsten Meisterwerke der Protagonisten der Avantgardebewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie Fotografien weniger bekannter Autoren. Neben ikonischen Bildern von amerikanischen Fotografen wie Alfred Stieglitz, Edward Steichen, Paul Strand, Walker Evans und Edward Weston und europäischen Fotografen wie Karl Blossfeldt, Brassaï, Henri Cartier-Bresson, André Kertész und August Sander beleuchtet die Sammlung Walther die zentrale Rolle der Frau in der frühen modernen Fotografie mit Werken von Berenice Abbott, Marianne Breslauer, Claude Cahun, Lore Feininger, Florence Henri, Irene Hoffmann, Lotte Jocobi, Lee Miller, Tina Modotti, Germaine Krull, Lucia Moholy, Leni Riefenstahl und vielen anderen. Zusätzlich zu den Meisterwerken der Bauhaus-Fotografie (László Moholy-Nagy, Iwao Yamawaki), des Konstruktivismus (El Lissitzky, Aleksandr Rodčenko, Gustav Klutsis) und des Surrealismus (Man Ray, Maurice Tabard, Raoul Ubac) finden wir auch die futuristischen Experimente von Anton Giulio Bragaglia und die abstrakten Kompositionen von Luigi Veronesi, zwei der Italiener, die zusammen mit Wanda Wulz und Tina Modotti in der Ausstellung vertreten sind.